Zwei Weihnachtsgeschichten
Zwei Weihnachtsgeschichten
Autor: Sophie Reinheimer
Nun kam es immer, immer näher, das Weihnachtsfest. Auch im Dorfe unten fing man an, sich schon dafür zu rüsten. Kinder kamen mit Körbchen herauf in den Wald und holten Tannenzweige. "Zum Schmücken", sagte die Muhme Tanne. "Damit schmücken sie die Stuben aus."
Aus dem Schornstein des Bäckerhauses stieg den ganzen Tag ein dicker schwarzer Rauch auf, ein Zeichen, dass da mächtig gebacken wurde. Das Rotkehlchen und Frau Tannenmeise konnten denn auch gar nicht genug erzählen von den herrlichen braunen, süßduftenden Kuchen, die durch die Dorfstraßen getragen wurden.
"Hoffentlich wird man nicht vergessen, uns dazu einzuladen", meinte Frau Tannenmeise.
Auch dem roten Postauto unten auf der Landstraße konnte man es anmerken, dass irgendwas besonderes los war. Gewöhnlich barg es die Pakete in seinem Inneren; jetzt aber war das ganze Postwagendach damit vollbeladen, und sogar der Fahrer vorn am Steuer hatte noch welche neben sich.
Was mag da alles darin sein! Dachten die Tannenkinder. Und ein kleines Dummerchen fragte: "Wann kommt denn endlich das Paket für uns?"
Ui je! Wie wurde es da ausgelacht, das Kleine.
"Als ob Tannenkinder Pakete bekämen!"
"Warum den nicht?" fragte das Tännchen. Und es dachte: Wenn wir Tannenbäume doch zu Weihnachten solche Hauptpersonen sind - warum sollen wir hier oben denn gar nichts von der Weihnachtsfreude abkriegen?
"Nun - wir wollen es abwarten", sagte die Muhme Tanne. "Vielleicht werdet ihr doch euer Teilchen Freude mitbekommen."
Nun war der heilige Abend da.
Freilich - hier oben im Tannenwalde merkte man nichts von all dem Lichterglanz, der heute die Welt erfüllte.
Dunkel und still wie an jedem anderen Abend war`s in des Tannenwalds Kinderstube auch heut! Nur im Dorfe unten sah man mehr helle Fensterlein als sonst, und die Tannenkinder wussten, das viele Licht kam von all den Christbäumen, die hinter diesen Fenstern brannten.
Was wohl ihre Schwesterlein und Brüderlein jetzt machten? Wie gerne hätten sie sie mal gesehen in ihrem Kettenschmuck, mit ihren goldenen Haaren und den Lichtchen.
Ob die kleinen Sterne, die heute wieder da oben am Himmel standen, die Schwesterchen und Brüderchen wohl jetzt sehen konnten?
"Sicher", meinte die Muhme. Und dann meinte sie noch: "Den Sternlein wird es wohl heut Abend so ähnlich gehen wie euch. Manches von ihnen möchte auch wohl gerne seinen Platz vertauschen und heut lieber mal ein Stern auf einem Weihnachtsbaume sein."
"Hm!" machten die Tannenbäumchen; und dann kamen sie sich samt den Sternlein doch eigentlich recht bemitleidenswert vor in ihrer Einsamkeit hier, so im Dunkeln. -
Nun stand da im Walde - gar nicht weit von der kleinen Gesellschaft - ein ganz alter, morscher Tannenbaum mit einem langen grauen Flechtenbart.
"Großvater" nannten ihn die Tannenkinder und hatten schon immer eine ganz besondere Freundschaft mit ihm gehabt. Grüße und Kusshändchen winkten sie ihm zu, und gar zu gerne hätten sie ihn auch mal an seinem schönen grauen Bart gezupft. Na - dem Tannengroßvater, dem tat es sehr leid, dass die kleinen Tannenkinder heut am Heiligabend so still und so traurig waren. Ich werde ihnen eine Geschichte erzählen, dachte er. Eine Geschichte, die ihnen Freude machen wird.
Und also gleich begann er: "Ihr klaget, meine lieben Tannenkinderlein, dass es abends jetzt immer so dunkel um euch ist. Dass die Sonne so spät aufsteht und so zeitig schlafen geht und dass euch niemand Licht bringt in die dunkle Kinderstube.
Solange es Winter ist, muss ich schon diese Klagen von euch hören. Nun, höret: So wie euch, so ist`s vor vielen, vielen tausend Jahren auch einmal den Menschen ergangen. Damals, wisset - zu der Zeit, von der ich euch erzählen will - da war das alles noch ganz, ganz anders als jetzt. Da gab`s noch keine großen Städte und Häuser, da wohnten die Menschen noch auf freiem Felde, in niedrigen Hütten und Zelten. Und in den Hütten, wisst ihr - da brannte noch kein Gas und kein elektrisches Licht. Nein, die Menschen, die zu der Zeit lebten, die hatten fast kein anderes Licht als die Sonne.
Wenn nun der Winter kam und die Sonne immer früher schlafen ging und immer später aufstand, dann klagten die Menschen, gerade wie ihr, über die viele, viele Dunkelheit. Sie konnten es ja wohl verstehen, dass Frau Sonne nach all der vielen Arbeit im Sommer, nach dem Immerfrühaufstehen und Spätzubettgehen nun den Winter dazu benutzen wollte, sich erst einmal tüchtig auszuschlafen. Aber sie hofften doch recht sehr, dass das Ausschlafen nicht gar zu lange dauern werde; denn die Dunkelheit war doch zu schrecklich.
Und endlich war die Zeit gekommen, als Frau Sonne sich in ihrem weißen Wolkenbett umwendete, sich die Augen rieb und lächelnd sagte: "So, ihr lieben Menschenkinder, nun bin ich nicht mehr ganz so müde, nun kann ich wieder alle Tage ein bisschen früher aufstehen und ein bisschen später schlafen gehen, - freut euch nun wird`s allmählich wieder heller werden auf der Erde."
Da hättet ihr die Menschen aber mal sehen sollen; sie wussten sich vor Freude nicht zu lassen. Ihre Hütten schmückten sie mit grünen Zweigen aus, steckten Freudenfeuer an und kochten und brieten, sangen frohe Lieder und feierten ein großes Fest. Das Fest, das nannten sie das Fest der Wintersonnenwende.
"Doch! Doch! - Ja, ja!" nickten die Bäumchen. Sie waren noch ganz erfüllt davon. Und etliche, die seufzten ganz leise.
"Passt auf - nun kommt aber noch das Schönste!" sagte Tannengroßvater. "Frau Sonne machte es nun alle Jahre so. Alle, alle Jahre - bis heute noch. Die erste Zeit im Winter, da schläft sie; schläft sich aus. Deswegen habt ihr sie jetzt auch so wenig gesehen.
Nun aber - nun ist wieder die Zeit, da Frau Sonne sich in ihrem weißen Wolkenbette umwendet und verspricht, wieder früher aufzustehen und länger aufzubleiben. Nun ist die längste Winternacht vorbei, und das Licht wird wieder auf die Erde kommen."
"Gr - Großvater - woher weißt du das?"
"Großvater - da müssen wir ja ein Fest feiern!"
"Wir feiern ja eins", sagte der Tannengroßvater. "Weihnachten - so nennt man es heute. Es ist dasselbe wie das frühere Wintersonnenwendefest."
"So? Soo? Aach - so?"
Es war ein großes Staunen in der Kinderstube. Ein Staunen und eine Freude. Und gerade in diesem Augenblick klang unten vom Dorfe herauf das Läuten der Glocken. So schön, so feierlich. "Die Weihnachtsglocken", sagte die Tannenmuhme; "hm, hm", und sie räusperte sich ein bisschen dabei.
"Sie läuten vor Freude, weil das Licht nun wieder in die Welt kommen wird; Tannenmuhme - nicht wahr?"
"Hm! Hm!" Die Muhme räusperte sich noch mal, ein bisschen stärker. "Ja", sagte sie dann. "Aber sie meinen noch ein anderes Licht."
"Noch - ein - anderes Licht?"
"Ja. - Hmm! Hmm!" Und zum drittenmal räusperte sich die alte Tannenmuhme, sah nach dem Großvater hinüber und schüttelte den Kopf.
"Der Großvater - hm!" Der Großvater ist ein alter Heide - hatte sie sagen wollen. Aber sie verschluckte es und sagte: "Der Großvater weiß nur diese eine Weihnachtsgeschichte. Ich aber weiß noch eine."
Und nun erzählte sie den Tannenkindern die Geschichte, die ihr sicher alle kennt: Die Geschichte von dem kleinen Jesukind. Wie es in dunkler Winternacht im Stall zu Bethlehem geboren ward - wie`s da auf einmal ganz hell wurde im Stall und um den Stall herum und auf dem Felde. Wie die Hirten, die da draußen ihre Schafe weideten, sich fürchteten vor diesem Licht, bis dann der Engel kam und ihnen sagte, dass sie sich nicht zu fürchten brauchten. "Denn" - sagte der Engel, - "das Kindlein, das dort im Stall in der Krippe liegt - das ist von ganz besonders feiner, lieber Art und wird den Menschen sehr viel Licht und sehr viel Freude bringen."
Nun - wie gesagt - ihr kennt ja die Geschichte. Die kleinen Tannenkinder aber hatten sie noch nie gehört; sie gefiel ihnen ebenso gut wie die Geschichte des Tannengroßvaters.
"Und zur Erinnerung, seht ihr" - schloss die Muhme - "zur Erinnerung an all das Licht und all die Freude, die das Jesus - Christkindlein in die Welt gebracht - brennen jedes Jahr zu Weihnachten, an seinem Geburtstag, all die vielen tausend hellen Lichtern auf den Christbäumen."
Die Glocken unten im Dorfe schwiegen. Die Tannenbäumchen schwiegen auch. Keins von ihnen aber klagte mehr, dass es so dunkel und so traurig sei hier oben. Denn auch in ihren kleinen Herzen war nun die Freude eingezogen - die Weihnachtsfreude und das Weihnachtslicht.