Der Weihnachtskarpfen
Der Weihnachtskarpfen
Autor: Doris Karla
Zu Barbara und Werner hatten wir engen, freundschaftlichen Kontakt. Werner war ein Studienfreund meines Mannes. Unsere Freunde hatten drei kleine Jungen im Alter von 7, 5 und 4 Jahren. Wenn wir uns gegenseitig besuchten, war Leben in der Bude, denn mit unseren beiden Töchtern Maren und Linda - knapp 3 und 4 Jahre alt - war unser Nachwuchs ein munteres Team.
Am 22.12. rief Barbara mich an. "Na, hast du schon alle Geschenke besorgt und eingepackt?", neckte sie. "Nun, wenn ihr Zeit habt, würden wir morgen vorbeikommen. Die Kinder freuen sich schon d`rauf!" Ich war etwas perplex. So kurz vor Weihnachten. "Wann kommt ihr denn?", wollte ich wissen. "Wir essen noch zu Hause zu Mittag und ich schätze, dass wir gegen 15.00Uhr bei euch sein können", entgegnete Barbara. "Toll! Ich freu` mich d`rauf", log ich. Mit so einem Trubel hatte ich vor Weihnachten nicht wirklich gerechnet. In Gedanken überlegte ich schon, was ich noch brauchen würde, um schnell einen leckeren Kuchen zu backen, den auch alle Kinder mögen.
Am nächsten Tag – pünktlich um drei klingelte es. Maren und Linda rannten zur Tür. Stürmisch begrüßten sie die Jungen schon auf der Treppe. Barbara und Werner waren noch nicht zu sehen. Oh! Was war denn das? Barbara kam gebückt mit einer Plastikbadewanne in den Händen die Treppe hinauf, und Werner trug einen blauen Müllsack, den er geschickt über die Wanne hielt.
"Wir haben einen Karpfen mitgebracht!", rief Ralf. "Papa hat ihn selbst geangelt!" "Hallo, ihr Lieben!", begrüßte uns Werner. "Ihr könnt mal eben Wasser in eure Badewanne lassen. Es wird Zeit, dass er etwas mehr Wasser bekommt und außerdem ist der Sack nicht ganz dicht."
Ich wusste gar nicht wie mir geschah. Fünf Kinder flitzten an mir vorbei, um ins Badezimmer zu gelangen. Rainer und ich standen noch wie angewurzelt auf dem Treppenabsatz. Nun gingen auch wir ins Badezimmer. Das Wasser lief schon. "Doch nicht warmes Wasser, Maren!", rief ich. "Der will doch nicht baden!" Wir ließen das warme Wasser aus und dafür neues, kaltes Wasser ein.
Dann befreite Werner den Karpfen und ließ ihn in die Badewanne gleiten.
"Toll!", freute sich Linda und Maren stellte stolz fest: "Jetzt haben wir auch ein Haustier." Unschlüssig standen wir um die Badewanne herum. Einen lebendigen Karpfen hatten wir noch nie. Was würde daraus wohl werden?
Da kam auch schon unsere ältere Tochter mit einer Scheibe Brot aus der Küche. "Der hat bestimmt Hunger!", glaubte sie zu wissen, und schon hatte sie ein paar Stücke abgerissen und in die Wanne geworfen. Zur Enttäuschung aller Kinder fraß der Karpfen nicht das kleinste Stückchen. "Vielleicht muss er sich erst eingewöhnen!", mutmaßte Peter, der älteste, der drei Brüder. Nachdem sich die Aufregung ein bisschen gelegt hatte, verließen wir das Badezimmer. Kurze Zeit später kam Maren zu mir und erklärte: "Ich hab ihm das Licht angemacht, damit er keine Angst hat!"
Dann tranken wir gemütlich Kaffee und sangen einige Weihnachtslieder. Die Kinder packten die kleinen Geschenke aus, die Barbara und Werner für unsere Töchter besorgt hatten und die Jungen die, die ich für die Drei eingepackt hatte. Es wurde noch ein schöner und gemütlicher Nachmittag.
Als Barbara, Werner und die Kinder sich verabschiedeten, dachte ich schon gar nicht mehr an unsere Einquartierung. Während ich den Abendbrottisch deckte, hatten sich Maren und Linda jedoch ihre kleinen Ikea-Schaumstoffsessel aus dem Kinderzimmer ins Bad getragen und saßen vor der Badewanne. "Der frisst gar nicht!", klagte Maren. "Vielleicht ist das die Aufregung. Heute haben wir alle genug davon gehabt. Wir sollten alle möglichst schnell ins Bett gehen!", schlug ich vor. Die Kinder waren auch tot müde. Morgen war Heilig Abend. Da sollten alle fit und ausgeschlafen sein.
Als unsere Kinder endlich eingeschlafen waren, ging ich noch einmal ins Badezimmer. "Warum mussten Barbara und Werner uns das nur antun?", sinnierte ich. Ich hatte noch nie einen Karpfen zubereitet und töten konnte ich den armen Kerl auf keinen Fall. "Rainer, ich kann den aber nicht schlachten!", sagte ich zu meinem Mann. "Das musst du schon machen. Schließlich hat ihn ja dein Freund angeschleppt!" Rainer was noch ganz gelassen. "Das werde ich schon hinkriegen!", meinte er nur.
Am anderen Morgen stand ich schon sehr früh auf. Unser Besucher im Badezimmer hatte mir eine etwas unruhige Nacht beschert. Ich wusch mich, trocknete mich ab und griff nach meiner Zahnbürste. Als ich in die Badewanne blickte und den Karpfen zwischen dem aufgeweichten Brot schwimmen sah, entglitt mir die Zahnbürste und fiel ins Wasser. "Scheiße!", zischte ich und holte mir eine Ersatzzahnbürste aus dem Schrank. Die alte wollte ich nicht mehr verwenden. Der Tag begann ja schon super!
Ich bereitete das Frühstück vor und so langsam kam auch meine Familie in Gang. "Du musst dann den Karpfen schlachten! Ich geh mit den Kindern noch Milch und ein paar Kleinigkeiten holen", erklärte ich meinem Mann. Wir waren noch nicht weg, da verschwand Rainer mit einem Messer in der Hand im Badezimmer. Kurze Zeit später stand er wieder in der Küche. "Der ist total glitschig. Hast du nicht etwas womit ich ihn betäuben kann?", fragte er mich leise. Ich gab ihm meine Suppenkelle und rief die Kinder, um mit ihnen einkaufen zu gehen.
Als wir zurückkamen, strahlte mich mein Mann an. "Erledigt!" "Geh du mal mit den Mädchen ins Kinderzimmer, ich schau mal nach ihm!", ordnete ich an. Ich ging ins Bad und erschrak. Nie hätte ich gedacht, dass ein Karpfen so viel Blut hat. Unser Badezimmer sah aus wie ein Schlachthaus. Und das an Heilig Abend!
"Werner, wenn ich dich jetzt in die Finger kriegen könnte", dachte ich.
Ich trug den Karpfen in die Küche und wusch ihn ab. Dann legte ich ihn auf eine Platte und verstaute ihn im kalten Backofen, damit er nicht für jedermann sichtbar war. Anschließend putzte ich unser Badezimmer. Verzweifelt rief ich
schließlich meine Schwiegermutter an: "Mutti, kannst du mal zu uns kommen. Ich habe noch nie einen Karpfen ausgenommen und zubereitet!". Meine Schwiegermutter erklärte sich einverstanden und wir verabredeten, dass Rainer und die Kinder sie gleich mit dem Auto abholen würden.
Nachdem Rainer die Oma "eingeflogen" hatte, machten wir Frauen uns in der Küche ans Werk. Meine Schwiegermutter, eine gebürtige Danzigerin, war an die Zubereitung von Wild und Fisch schon in Elternhaus angeleitet worden und bearbeitete unseren Fisch fachmännisch: schuppen, ausnehmen, säubern, salzen usw. Als er dann endlich mit Butterflöckchen versehen in einer großen Auflaufform in den Ofen geschoben werden konnte, fiel mir ein Stein vom Herzen. Kartoffeln und Gemüse waren schnell auf dem Herd. Nach dieser Aufregung wurde mir endlich etwas weihnachtlicher zu Mute. Ich deckte den Tisch.
Nun war es so weit. Wir saßen zu fünft am Esstisch und wünschten uns gegenseitig einen guten Appetit. Maren saß unschlüssig vor ihrem Teller. Nach einer Weile fragte sie: " Ist das unser Fiss?" "Aber nein!", log ich. "Den habe ich auf dem Markt gekauft. Der war schon tot." "Unseren Fisch habe ich in einem Eimer in den Volkspark gebracht und im See ausgesetzt. Du weißt doch, da sind viele Karpfen drin. Da hat er jetzt Gesellschaft und ist nicht so allein", ergänzte Rainer. Maren schien zufrieden zu sein. Kurze Zeit später meldete sich die Kleine zu Wort. "Das Hähnchen mag ich nicht!", nörgelte sie und schob ihren Teller von sich. Wir Erwachsenen sahen uns am und mussten schmunzeln.
Für uns war klar: Einen Karpfen würden wir nie wieder zu Weihnachten haben wollen.
"Wenn Werner im nächsten Jahr noch einmal mit einem Karpfen hier anrollt, dann bringe ich den wirklich zum Volksparksee und setze ihn da aus!", prophezeite mein Mann.
Nun sind schon viele Jahre vergangen. Maren und Linda sind inzwischen erwachsen, haben geheiratet und haben eigene Kinder. Einen Karpfen hat es in unserer Familie aber nie mehr gegeben.